„Warum landen ausgerechnet auf meinem Schreibtisch immer so viele ungeklärte Mordfälle, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben?“
„Vielleicht weil Irland so viel davon hat?“
„Was? Mordfälle?“
„Nein. Vergangenheit.“
In den irischen Nachrichten ist immer wieder von Skelettfunden die Rede. Meist interessieren sich Archäologen dafür wie 2013, als nahe dem Poulnabrone Dolmen im County Clare die sterblichen Überreste einer Mutter mit ihren beiden Kindern ausgegraben wurden. Der Fund stammt vermutlich aus anglonormannischer Zeit, während die Knochen, die der Sturm Ophelia im Oktober 2017 an der Küste von Wexford freispülte, bis weit zurück in die Eisenzeit datieren. Häufig fördert der Torfabbau Leichen zutage, Menschen, die sich einst im Moor verirrten, oder jene, die vor langer Zeit Opfer von geheimnisvollen Ritualen wurden. Sie alle lagen mehr als tausend Jahre in der Erde verborgen.
Für Knochenfunde aus jüngerer Zeit interessiert sich eher die irische Polizei. 1975 fanden spielende Kinder in dem kleinen Städtchen Tuam im County Galway die Überreste von hunderten Kleinkindern und Neugeborenen. Ein Massengrab im Garten eines Mutter-Kind-Heimes, das von Nonnen des katholischen Ordens Sisters of Bon Secours geleitet wurde. Bereits in den Zwanziger Jahren bis in die Siebziger lebten hier junge Frauen und Mädchen, die meist ungewollt schwanger geworden, nicht selten durch Vergewaltigung, und von der eigenen Familie der Schande wegen in dieses Heim abgeschoben worden waren.
Die Neugeborenen, in den Augen der Nonnen Kinder des Teufels, wurden ihren Müttern weggenommen, und wenn sie nicht zur Adoption weggegeben wurden, dann starben sie an Krankheit, Verwahrlosung und Hunger. Viele wussten über diese Begräbnisstätte Bescheid, aber offizielle Ermittlungen wurden erfolgreich verhindert. Man behauptete, es handele sich bei den Knochen um sterbliche Überreste aus der Zeit des Great Famine, der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts. Erst 2017 begann langsam die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels irischer Geschichte.
Und dann sind da die Disappeared Victims, die Opfer der Troubles, des Bürgerkriegs, der Irland und Großbritannien so viele Jahre in Atem gehalten hat. In den Siebziger und Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging die IRA hart mit denen ins Gericht, die Informationen an die Briten weitergaben oder geheime Waffenlager an den Feind verrieten. Die Leichen wurden irgendwo in einem entlegenen Landstrich verscharrt, die Hinterbliebenen im Ungewissen gelassen, niemand wagte es, Fragen zu stellen, die Angst war zu groß, selber ins Visier der Brigaden zu geraten.
Und nicht immer traf es den Richtigen, manch unliebsamer Mitmensch wurde vom Nachbarn denunziert, und das Strafgericht der IRA machte vor nichts und niemandem Halt. Ein Geistlicher, der zwischen den Fronten vermitteln wollte, wurde ebenso ihr Opfer, wie der übermütige Teenager, der mal was erleben wollte, oder die Hausfrau, die zufällig etwas gesehen hatte, das sie besser nicht hätte sehen sollen. Nach dem Karfreitagsabkommen 1998 sollte das Morden auf beiden Seiten aufhören. Aber noch immer verschwinden Menschen und tauchen nie wieder auf.