Irgendwann in der Nacht wachte er auf. Ein grauer Schleier hing vor dem Fenster. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Der Wind hatte wieder aufgefrischt, heulte ums Haus wie ein einsamer Wolf. Irgendwo klapperte eine Tür.

Er schlief wieder ein.

Nein, es war nicht der Wind, dachte er noch. Es war die Banshee, die der Welt ihr Leid klagte.

Jemand würde sterben.

Im September 2011 wurde in der kleinen Ortschaft Glencolmcille in Donegal eine amerikanische Touristin vermisst gemeldet, die von einer Wanderung nicht wieder in ihre Unterkunft zurückgekehrt war. Eine großangelegte Suchaktion wurde gestartet. Polizisten durchkämmten das gesamte Dorf, die gelben Warnwesten der Suchmannschaften waren weithin in der Landschaft sichtbar, und über allem kreiste lärmend und fast ohne Unterlass der Helikopter der Küstenwache. Am vierten Tag war man sich sicher, dass man nur noch eine Leiche finden würde – wenn überhaupt: Das Wetter war stürmisch, die See rau, wie schnell wehte es da einen unvorsichtigen Wanderer von den steilen Klippen ins Meer…

Aber dann geschah das Wunder – man fand die Frau im alten Pfarrhaus des Dorfes, einem verschlossenen, leerstehenden Gebäude, das gerade saniert und zu einer Ferienwohnung umgebaut wurde. Sie war ausgehungert und dehydriert, davon abgesehen körperlich unversehrt, aber völlig orientierungslos, sie konnte beim besten Willen keine Auskunft geben, wie sie hierhergekommen war und was in den vergangenen fünf Tagen passiert war.

Sie wurde umgehend ins Krankenhaus geflogen, die Familie reiste aus den Staaten an und nahm die Vermisste mit nach Hause. Ende der Geschichte.

Der Vorfall wurde nie aufgeklärt. Im Dorf munkelte man lediglich, dass schließlich jeder wisse, dass es im alten Pfarrhaus spuke. Mehr brauchte man nicht zu wissen und niemand hinterfragte die Geschichte.

Der Glaube an Feen und Kobolde ist tief verwurzelt in Irland. Noch immer findet man hier und da Weißdornbüsche, in deren Zweige Stofffetzen oder Talismane gehängt werden, um die Feen milde zu stimmen. Der eine sucht noch immer nach Tír na nÓg, dem sagenhaften Land der Jugend, oder nach der Stadt im Meer, die nur bei Ebbe sichtbar wird, ein anderer warnt vor einem mysteriösen Felsbrocken, dessen Form dem Antlitz einer alten Frau gleicht – wenn du dort ein Haar oder einen Fingernagel verlierst, wird eine Hexe Macht über dich erhalten…

Fast schon legendär ist der nächtliche Ruf der Banshee. Die bleiche weißgewandete Frau aus der Anderswelt, deren Augen rot glühen vom vielen Weinen, kündet mit ihrem geisterhaften Klagen den nahen Tod eines Angehörigen an. Ob jener nun eines natürlichen Todes stirbt oder durch die Hand eines anderen Menschen, das bleibt abzuwarten…

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